Gefühlsdruck

Harald Martenstein sucht nach der Weihnachtsstimmung

Ich bin tierlieb. Ich habe auch Tanten. In diesem Jahr ist eine Tante von mir gestorben. Das Erbe der Tante besteht aus einem steinalten, klepperdürren, pausenlos miauenden Kater, welcher den komplizierten Namen Miaurizio besitzt. Wir sind jetzt eine Alten-WG. Ich hatte schon oft Katzen. Als Student, während andere ihre Jugend verschwendeten, habe ich Katzen gebürstet und Katzenklos gereinigt. Erwartungsgemäß hat seither die Katzenstreuindustrie Fortschritte gemacht, es gibt jetzt Katzenstreu, die extrem leicht ist, wie Popcorn, man kann eine Monatsration locker mit dem kleinen Finger tragen, außerdem riecht moderne Katzenstreu nach Babypuder. Was ist überhaupt Weihnachtsstimmung?

Als das Kind Kind war, hatten wir immer einen Weihnachtsbaum und einen Weihnachtsstern. Jetzt ist das Kind fünfzehn und sagt, dass es auf einen Baum und Sterne keinen Wert legt. Das Kind sagt, dass es jahrelang nur den Eltern zuliebe so getan hat, als glaube es an den Weihnachtsmann. In Wirklichkeit ist das Kind schon mit zehn Jahren, ach was, mit acht mit dem Weihnachtsbrimborium innerlich durch gewesen und hat sich lediglich auf die Geschenke gefreut. Sagt es. Ich als Jugendlicher habe Weihnachten für einen chronisch missglückenden Versuch gehalten, Harmonie herzustellen. In der Familie gab es, etwa um 23 Uhr, immer Streit. Bei meiner ersten Journalistenstelle, Lokalredaktion, sollte jeder in der Weihnachtsausgabe schreiben, was das Fest für ihn oder sie ganz persönlich bedeutet. Ich schrieb: »Für mich ganz persönlich bedeutet Weihnachten Streit um 23 Uhr.« Dies war der erste Artikel, der nicht gedruckt wurde.

Es ist für mich die schwierigste Zeit des Jahres. Ich hasse es, zu bestimmten Anlässen bestimmte Stimmungen produzieren zu müssen, also Besinnlichkeit zu Weihnachten, Partylaune zu Silvester und Frohsinn an Karneval. Zu allen drei Stimmungen bin ich in der Lage. Aber das ist so ein emotionaler Druck. Ich bekomme dann innere Blockaden. Man sollte das alles niedriger hängen, dann steigen die Erfolgschancen. Andererseits, wenn man es ignoriert, wenn man an Silvester einfach zu Hause bleibt, allein womöglich, oder wenn man an Heiligabend einfach in die Kneipe geht, was ich als Student einmal getan habe, ist man erst recht deprimiert. Man denkt, alle anderen schaffen es, die für diesen Tag rituell vorgesehene Stimmung hervorzubringen, bloß ich nicht, ich Monstrum.

Wenn die Kinder klein sind, erreichen im Ablauf des Lebens die weihnachtlichen Gefühle den Höhepunkt, und zwar bei den Erwachsenen. Ich habe eine völlig ironie- und skepsisfreie, wunderbar naive, einfach perfekte Weihnachtsstimmung auf das Kind projiziert, und das Kind warf, wie ein Spiegel, diese Stimmung auf mich zurück. Dabei sind, wie ich jetzt weiß, die Kinder selbst auch nicht immer in Weihnachtsstimmung! Das Problem bei der neuen Katzenstreu aber besteht darin, dass sie an den Pfoten klebt. Die ganze Wohnung ist, wenn man nicht pausenlos saugt, voller Katzenstreu. Aber sie riecht nach Babypuder. Von Miaurizio kann man das nicht sagen.

DIE ZEIT, 20.12.2006 Nr. 52