"Riskieren Sie was!"
Liebe Angela Merkel,
um gleich mit der Tür ins Haus zu fallen: Ich habe was riskiert, damit Sie gewählt werden, und jetzt sind Sie gewählt, und Sie riskieren nichts. Das Zeitfenster zwischen den Wahlen schließt sich schon wieder - ein Jahr ist vorbei und erst eine, hoffentlich zukunftsfeste Reform, nämlich die des Föderalismus, ist auf dem Weg. Und die entfacht keinen Streit in der Gesellschaft, sie interessiert die Wähler nicht. Sie wurde nur unter Politikern verhandelt, die hätte man auch nach Feierabend oder in den Ferien verarzten können.
Aber auch wer mit der Tür ins Haus fällt, stellt sich vor: Ich bin freischaffend und kenne niemanden persönlich, jedenfalls nicht übers freundliche Grüßen hinaus, der je CDU gewählt hat. Das ist in meiner Umgebung undenkbar, man ist links, alternativ, gewerkschafts- oder SPD-nah sozialisiert, hat das Wort "konservativ" ausschließlich als Schimpfwort gehört oder gebraucht, hält das bürgerliche Lager per se für herzlos und gierig und betrachtet es folglich als Verrat, wenn einer wie ich die Argumente dieses Lagers auf einmal nicht mehr für allesamt verlogen und bigott, sondern hier und da plausibel hält. Ich hatte einen schweren Stand.
Das Sein bestimmt das Bewusstsein, hieß es auf einmal, kein Wunder, dass ich als Besserverdiener die eigenen Interessen wahren wolle etc. Meine Entgegnung, dass, wer mit 20 nicht Sozialist sei, kein Herz habe, aber wer es mit 40 noch immer sei, keinen Verstand, wurde mit Stöhnen abgetan, so wie in diesen Kreisen (und nicht nur dort) alles mit Stöhnen abgetan wird, was zwar gut oder gar nicht richtig klingt, aber den eigenen Standpunkt schwächt.
Ich outete mich als frisch konvertierter CDU-Wähler, weil mich Kirchhof, Kündigungsschutz (dessen Abbau natürlich) und Kopfpauschale als Konzepte überzeugten, und seither strahlt mir aus manchem Freundesauge nicht mehr die reine Herzlichkeit entgegen, sondern Skepsis, Reserviertheit und Ressentiment: Bestimmte Themen werden nicht mehr angeschnitten, wenn ich dabei bin, meine Redebeiträge können noch so harmlos oder unpolitisch sein, mir weht ein klammer Gegenwind ins Gesicht, weil man ja jetzt weiß, was ich für einer bin. Fast scheint es, als ob der Raum, den ich betrete, ein paar Grad kühler wird, sei es wegen meiner (ausgewiesenen) Herzenskälte, sei es wegen der Kühle, die mir entgegengebracht wird - ich drehe mich manchmal um und erwarte ein Plakat an der Wand zu sehen: "Feind hört mit".
Ich bin dieses Risiko bewusst eingegangen, weil ich noch immer an die Kraft von Argumenten, von Logik und intellektueller Redlichkeit glaube, weil ich Wahlfreiheit als Kernelement der Demokratie betrachte und mir sicher bin, sie geht verloren, wenn man in ideologisch, biografisch und emotional definierten Lagern verharrt. Wahlfreiheit verkommt zur Fiktion, wenn sie nur theoretisch als Angebot besteht, sie muss praktisch wahrgenommen werden denn ohne Ausübung existiert sie nicht.
Den Verlust von Kirchhof habe ich bedauert. Nicht nur, weil ich mich für ihn und seine Pläne verkämpft hatte, indem ich das, was er irgendwann mal über die Stellung der Frau geschrieben hat, für fiskalpolitisch irrelevant erklärte und mir damit das Image eines Co-Reaktionärs einhandelte, sondern weil sich wieder gezeigt hatte, dass man den Wählern mit erfundenen Krankenschwestern und Druckern die Vernunft abschwatzen und den alten Hass auf die bösen Reichen wieder aufschwatzen kann, deren Schande im wesentlichen darin besteht, dass man nicht zu ihnen gehört. Lieber zahlt man selbst mehr, als dass die weniger zahlen. Dabei hätte sein Konzept dazu getaugt, Frieden zu stiften zwischen Wenig- und Vierverdienern. Jeder hätte gewusst, dass keiner sich mehr drücken kann, und der Mythos vom Sich-Armrechnen der Gutverdiener wäre obsolet geworden.
Zurück zu meinem Risiko: Ich bin für meine Freunde eine Art Freak geworden, und ich trage die Folgen mit Stil, so gut ich kann jedenfalls, weil ich weiß, dass auch bedeutendere Menschen als ich sich mit ihrem Umfeld überwerfen mussten, um neues zu denken, zu testen und zu realisieren. Die Wirklichkeit gab ihnen dann später recht, und das möchte ich nun auch erleben.
Und hier kommen Sie ins Spiel. Jetzt müssen Sie die Risiken eingehen, die "Bild-Zeitung ignorieren, das Geschrei ignorieren (außer natürlich die guten Argumente und zum Beispiel diesen Text) den Dauerwahlkampf aussetzen und die Profilneurotiker stoppen oder aus der Regierung zu werfen.
Ich gebe zu, dass ich begeistert bin von Ihrem kooperativen Führungsstil, es gefällt mir, dass Sie im Ausland bella figura machen, aber ich habe sie gewählt und in meinem Umfeld dafür geworben, weil Ihre Analysen klar und Ihre Vorhaben festumrissen waren. Inzwischen scheint nichts mehr klar, und ich vermisse Ihre Stimme. Es muss kein Bellen sein oder Wolfsgeheul wie zu Schröders Zeiten, aber klare Worte, Führung, Ansagen, aus denen sich erschließt, dass Ihre früheren Analysen nicht Makulatur sind und Ihre Vorhaben nicht bloße Wahlwerbung waren. Solche klaren Worte will ich hören.
Ich will nicht m8itregieren, ich bilde mir nicht ein schlauer zu sein als unsere Politiker. Moment, jetzt lüge ich, es hat sehr oft den Anschein, als wären Logik und Sachlichkeit eher ein Makel, den man tunlichst sorgsam hinter populistischen Parolen zu verstecken hat, also komme ich mir des Öfteren klüger vor, nur mag ich das nicht zugeben. Nicht hier jedenfalls.
Worauf ich hinaus will: Wenn es schon zwingend ist, im Wahlkampf mit Platitüden, Phrasen und herzerwärmendem Pillepalle den Millionen verblödetet Egoisten ihre Stimme abzuschwatzen, dann ist es eben eine Plage der Demokratie im Medienzeitalter, man muß es aushalten, vielleicht muß man es sogar verzeihen, aber Sie, die sich diesem Zwang nich beuugen wollten und stattdessen Klartext, Konzepte und konkrete Pläne geäußert, intellektuellen Anstand und eine (vielleichzu) hohe Meinung vom Grips der Deutschen gezeigt haben, Sie dürfen diese wahlkampfarme Zeit nichtt ungenbutzt verstreichen lassen.
Ich finde, das sind Sie mir schuldig. Und nicht nur mir. Die vielleicht viel zu dünne Schicht der informierten, demokratiefähigen und motivierten Multiplikatoren braucht Beweise. Dass es richtig war, sich für Sachlichkeit und Pragmatismus zu entscheiden, dass der Mut, den das erforderte, sich lohnt, dass Mitdenken und Mitmachen eine gute, dem Allgemeinwohl dienende Sache und nicht nur der eigenen Eitelkeit und anderen Charaktermängeln geschuldet sind. Meine Bitte: Tun Sie, was ich nicht lassen konnte. Riskieren Sie was!
Der Schriftsteller Thommie Bayer, im vorigen Jahr bekennender Merkel-Wähler, hat der Kanzlerin einen Brief geschrieben.
Thommie Bayer, 53, lebt im Breisgau, hat mehrere Drehbücher geschrieben, darunter für den ARD-"Tatort" und für den Iris-Berben-Film "Andrea und Marie". Er ist Verfasser zahlreicher Romane, unter anderen "Das Herz ist eine miese Gegend", "Das Aquarium" und "Singvogel".
Aus "Der Spiegel" vom 28.8.2006
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